Das erstaunt uns: Staunen fördert das soziale Miteinander.
Waldbaden und Staunen gehören zusammen – unbedingt.
In den Wald zu gehen, ohne zu staunen, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es gibt einfach IMMER etwas zu be-staunen. Jetzt im Frühling sind es zum Beispiel auf alle Fälle die Blätter. Heute noch kaum wahrnehmbar, brechen sie bereits einen Tag später voll aus ihren Knospen heraus und kurz darauf erfreuen sie uns in ihrem hellsten, saftigsten Grün.
Nicht ganz so hellgrün sind die jungen Blätter des Ahorns, dafür überraschen sie uns jedoch schon nach wenigen Tagen mit ihrer Größe, nachdem uns zuvor schon die riesigen Knospen begeistert haben.
Ist es nicht auch erstaunlich, wie es gerade nun im Frühling überall summt und brummt, quasi von heute auf morgen. Dicke Hummeln versuchen sich im ersten Frühlingsflug und Schmetterlinge sonnen sich auf den warmen übereinander aufgeschichteten Baumstämmen.
Eichhörnchen sind ja eigentlich nichts Besonderes – jeder hat schon mal eines gesehen. Doch ich musste gestern stehenbleiben und das grazile Springen eines Eichhörnchens von einem Ast zum anderen beobachten. Das war fantastisch. Hast du schon mal genau hingeschaut, wie sie das machen? Es sieht so leicht und spielerisch aus – und ich glaube, jetzt im Frühling steckt auch ganz viel Freude in dem flinken Tun. Der Name des Eichhörnchens kommt übrigens auch genau daher: „aig“ ist ein indogermanisches Wort und heißt so viel wie „schnelle Bewegung“. Also nicht von der Eiche, auf der mein Eichhörnchen gestern herumturnte.
Na, wer da nicht staunt 😊
Ach ja, das sind wir ja wieder beim Thema.
Warum ist denn das Staunen so ein wichtiger Bestandteil eines jeden Waldbades? Und wie kann man denn (wieder) staunen lernen, wenn man es vielleicht im Alltag verlernt hat?
Wenn Alberte Einstein sagt „Wer [das Geheimnisvolle] nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen“, dann scheint es ja doch eine gewisse Bedeutung zu haben, sich die Fähigkeit des Staunens zu erhalten.
Wenn wir staunen, sind wir im Hier und Jetzt – oder kannst du wirklich, wenn du voll und ganz über die besondere Bauweise eines Schneckenhauses staunst, über das ungelöste Problem auf deinem Schreibtisch nachdenken?
Staunen kann auch schnell vergehen – wir staunen – und gehen weiter. Deshalb gibt es Staunen auch nur in dem gerade gegenwärtigen Moment. Ein Moment des Innehaltens, des Ganz-bei-der-Sache sein über die man staunt.
Doch, wenn ich ganz bei dieser Sache bin, über die ich mich gerade wundere, dann tritt mein eigenes Ego ganz weit in den Hintergrund. Ich nehme mich gar nicht mehr so wichtig. Wichtig ist nun nur das rote Blatt im braunen Blätterhaufen. Die Maserung des Blattes, die durchscheint. Die intensive Farbe, die Form. Ich kann mich vertiefen in dieser vergänglichen Schönheit.
Wenn unser Ego so zurücktritt, dann ist es nicht erstaunlich, dass Psychologen in den USA im Staunen vor allem ein Verhalten des Menschen sehen, das ihn zu einem sozialeren Wesen macht. Wissenschaftler um Paul Piff beschreiben im Fachblatt Journal of Personality and Social Psychology, wie das Gefühl des Erstaunens dazu beiträgt, dass Menschen kooperativer, hilfsbereiter und altruistischer zu werden (Bd. 108, S. 883, 2015).
Paul Piff: „Unsere Forschung weist darauf hin, dass es mehr Hilfe und mehr Rücksicht gäbe, wenn die Menschen öfter staunen würden.“
Das ist eine starke Aussage, lässt sie sich auch beweisen? Denn dann wären „staunende Waldbäder“ ja auch für die Gesellschaft ein großer Gewinn.
Wer staunt, so die Wissenschaftler, gibt sich einem Gefühl hin, an etwas teilzuhaben, das größer ist als man selbst. Der Mensch hält sich nicht mehr für den „Mittelpunkt der Welt“. „Die eigenen Sorgen verschwinden, und das Staunen ermutigt die Menschen, sich um das Befinden anderer zu kümmern“, so Piff an der University of California in Irvine.
Eines der Experimenten, die man unternahm, war, dass Freiwillige Filme zu sehen bekamen, mit denen bestimmte Reaktionen hervorgerufen werden sollten. Die Videos waren komödiantisch, langweilig oder neutral. Ein Teil der Probanden sah Filme über staunenswerte Naturphänomene. Was dabei herauskam war erstaunlich: Wen die Filme zum Staunen gebracht hatten, der verhielt sich hilfreicher, ausgleichender und war darum bemüht, von der Gruppe akzeptiert zu werden oder Freundschaften zu schließen.
Bereits vor 2015 gab es Studien von Jeffrey Mogil in Montreal, die zeigten, dass Menschen, die offen für andere sind und sich gerne überraschen lassen, nicht so egozentrisch sind. „Gemeinsame Erfahrungen, und seien sie noch so kurz, können aus einer Bedrohung ein Gefühl der Behaglichkeit entstehen lassen“. Interessant dabei ist, dass die unterschiedlichsten Auslöser bei Menschen sozialeres Verhalten bewirken – Hauptsache, sie staunen. „Egal, ob die Probanden sahen, wie bunte Tropfen in Zeitlupe in ein Glas Milch fielen, oder ob sie von der Wucht irritiert waren, mit der Tornados ihr zerstörerisches Werk verrichten, oder ob sie staunend in einem Eukalyptus-Hain saßen:
„Die Teilnehmer fühlten sich nicht mehr so wichtig und waren eher bereit, anderen beizustehen und sich für das große Ganze einzusetzen“, so Mogil.
In seinem Buch „Stauen“ beschreibt Hanspeter Ruch das Gefühl des Staunens so:
„Wenn wir staunen, leben wir in der Gegenwart…Wenn wir staunen, nehmen wir das Dasein an, wie es ist. Wenn wir staunen, sehen wir mit dem Herzen und nicht mit dem denkenden Geist. Wenn wir staunen, werten und urteilen wir nicht.“
Soweit also die Wissenschaft: Staunen hat durchaus positive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, unser Miteinander und auf uns selbst, da wir achtsamer werden. Die Vermutung liegt also nah, dass das Staunen unserer Gesundheit dienlich sein kann.
Doch können wir auf Kommando staunen? Wie soll das gehen? Eigentlich kommt uns ja irgendetwas daher und wir staunen darüber: sei es ein interessantes Naturphänomen, eine überraschende Begegnung, mit der wir gar nicht gerechnet haben oder ein ungewöhnliches Ereignis. Wir schenken dem Staunen darüber meist nicht lang Beachtung, sondern reagieren darauf – setzen unser Denken wieder schnell ein und schon ist der Zauber des Staunens vorbei.
Möchtest du das Staunen (wieder) in dein Leben bringen und dabei die einfachste Methode wählen, dann lass dich von einem Kind an die Hand nehmen. Ja, richtig gelesen: lass du dich an die Hand nehmen und nicht umgekehrt. Ziehe los mit ihm, am besten in die Natur, und wundere dich, was es alles zu bestaunen gibt. Der kleine Kieselstein, der weißer ist als all die anderen, der Regenwurm, der im Wald euren Weg kreuzt, die Mini-Spinne, für die du eigentlich eine Lupe bräuchtest, um sie richtig zu sehen, der Wolken-Bär, der über euch am Himmel steht und seine Form dauert verändert oder der Wassertropfen, in dem ihr euch selbst spiegeln könnt.
Das alles zu entdecken wird unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Du wirst vielleicht nur 200 Meter Weg zurücklegen. Es wird dir ein Menge Geduld abverlangen, denn das Kind wird zum Eichenbaum vielleicht Emil sagen und weil man über Emil vielmehr staunen kann als über die Eiche, wird es Emil bleiben, auch wenn dir auf der Zunge liegt, dass das doch eine Eiche sei. Heute nicht, heute ist es egal, wie etwas heißt oder was man daraus „Sinnvolles“ machen kann.
Heute ist „Staunen-Zeit mit Kind“. Und da lässt du dich halt führen. Du siehst mit dem Herzen und nicht mit dem denkenden Geist …
Doch auch, wenn du allein unterwegs bist, kannst du das Staunen in deinen Spaziergang durch die Natur bringen:
Nimm dir ganz bewusst vor, die nächste Wegstrecke so zu gehen, als ob du alles zum ersten Mal sehen, riechen, hören oder fühlen würdest. Schau dir die ganz kleinen Kräuter am Boden an, rieche an einer Handvoll Walderde, bewundere die glatten oder rauen Stämme der Bäume, höre das Gezwitscher der Vögel …
Wenn ihr zu zweit oder zu mehreren unterwegs seid, so könnt ihr vereinbaren, ein Stück des Weges schweigend zurückzulegen und euch nur auf besondere Dinge gegenseitig aufmerksam zu machen – nur zeigen, nicht darüber reden.
„Und wenn ihr euch das Staunen erhalten könntet über die täglichen Wunder eures Lebens, so wäre euer Schmerz nicht weniger erstaunlich als eure Freude. Denn dann würdet ihr die vier Jahreszeiten eures Herzens so annehmen, wie ihr die Jahreszeiten annehmt, die über eure Felder ziehen.“
Khalil Gibran
Ich wünsche dir viel Freude dabei, wenn du mit offenen, staunenden Augen die Welt erkundest, denn – und da stimme ich Oskar Kokoschka voll und ganz zu: „Wer noch staunen kann, wird auf Schritt und Tritt beschenkt“.
Und um dir noch ein bisschen mehr Geschmack auf das Staunen zu machen, habe ich hier noch ein Video für dich aufgenommen – von meinem letzten Staunen-Spaziergang. Viel Freude beim Ansehen:
Deine Annette
Buchempfehlung: „Staunen“ von Hanspeter Ruch
Eichhörnchen: eluxirphoto bei pixabay
Kategorien:Allgemein, Gesundheit