"Waldbaden: klein und fein"

Die Langsamkeit kultivieren

Die grundlegende Fortbewegung beim Waldbaden ist das Schlendern. Damit kultivieren wir die Langsamkeit beim Gehen. Doch langsam sind wir auch beim Schauen, Fühlen, Hören, Riechen und Schmecken. Langsam sind unsere Qigong-Bewegungen. Langsam sammeln wir Waldmaterial und langsam entstehen unsere Kunstwerke.

Und ganz langsam gewöhnen wir uns an die Langsamkeit. Wir genießen es, dass uns niemand hetzt, niemand etwas von uns will. Wir sind einfach da im Augenblick. Und dieser Augenblick kommt langsam und geht langsam.

Langsamkeit hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Langsam wird mit faul, träge und nutzlos gleichgesetzt. Wie verkehrt das ist, stellt man erst fest, wenn die Schnelligkeit zu Fehlern führt – und man diese Fehler ausbügeln muss. Es dauert viel länger als geplant, was unseren Körper stresst und unseren Geist ermüdet.

Wenn die Welt uns antreibt …

Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist es mal wieder so weit. Wir werden förmlich zum Heiligen Abend hingehetzt. Vor Kurzem erst die „Black Friday Wochen“ – dieses Angebot gilt nur noch diese Woche (also schnell entscheiden, egal, ob es nachhaltig ist oder nicht). „Last Minute Geschenke“ – dann stehts du an Weihnachten nicht mit leeren Händen da (also schnell kaufen, egal, ob sinnvoll oder nicht). „Weihnachtsangebote – JETZT KAUFEN(puhh, die Großschrift drängt sich mir geradezu auf). „Endspurt mit Frühbucherrabatt“, für einen Achtsamkeitsurlaub …(Da muss ich mich nun sputen, damit ich dann die Achtsamkeit lernen kann).Wer jetzt noch schnell ist, bucht ein Waldbad.“ (na prima, da kann ich dann ja meine Schnelligkeit mit der Langsamkeit wieder ausgleichen).

So geht es in einem fort. Und dann sind wir alle völlig fertig an den Feiertagen und müssen uns vom Stress, den wir von anderen eingebläut bekamen, erholen. Da läuft doch etwas verkehrt, oder?

Schnellere Kommunikation – mehr Zeit?

Besonders auffallend, wenn es um Schnelligkeit geht, auch die unglaubliche Geschwindigkeit der Kommunikation. Dauerte es früher noch 2 oder mehr Tage bis eine Nachricht beim Empfänger war, ist eine E-Mail heute in Minuten beim anderen angekommen. Und wehe, derjenige antwortet nicht am selben Tag …

„Eigentlich“ müsste uns das doch unendlich viel Zeit gebracht haben, insbesondere in den Büros. Wenn ich überlege, wie lange früher ein einfacher Brief gedauert hat: ich besorgte mir die Akte im Archiv, diktierte den Brief, der dann am nächsten Tag ausgedruckt aus dem Schreibbüro zurückkam, ich schaute drüber, unterschrieb ihn, dann ging er zur Poststelle und von dort zum Kunde. Rein theoretisch würde also heute das Selbst-in-den- Computer-Tippen mindestens, na sagen wir mal ca. 2 bis 3 Stunden Zeitgewinn bringen.

Also mehr Zeit für uns alle durch schnellere Kommunikationswege?

Telefonieren und Autofahren

Nein, ich glaube nicht, dass wir mehr Zeit haben. Sonst würden mich nicht immer öfters Menschen anrufen, die gleichzeitig im Auto sitzen und – schnell – von A nach B fahren. Sie haben alle keine Zeit, mit mir wirklich und mit voller Aufmerksamkeit zu telefonieren. Nimmt der telefonierende Autofahrer (oder die Fahrerin) die anderen Autofahrer und die Straße wahr oder nimmt er mein Gesagtes wahr? Beides geht ja kaum richtig. Nun, immerhin bekomme ich mit, wo er gerade herumkurvt, denn das Navi mischt in unserer Unterhaltung kräftig mit: „Die nächste Straße links und dann immer geradeaus ….“

Im Endeffekt kommen dabei wieder Fehler heraus, die im Nachhinein begradigt werden müssen, da nur die Hälfte des Besprochenen hängengeblieben ist.


Ich bin mir sicher, dir fallen noch viele, viele Situationen ein, in denen du dich auch gehetzt fühlst.

„Wenn du es eilig hast, mache einen Umweg“ oder

„Wenn du in Eile bist, dann gehe langsam“

In dieser oder ähnlicher Art gibt es genügend weise Zitate – insbesondere aus dem östlichen Lebensraum. Hier, wo auch die Kampf- und Bewegungskunst des Taijiquans seinen Ursprung hat.

Taijiquan

In Zeitlupe und ständigen Wiederholungen werden viele Jahre die Bewegungen trainiert. Schnell zum Ziel kommen, ist hier verpönt. Beim Taijiquan geht es sehr viel um die Beobachtung des Umfeldes. Es geht um Genauigkeit bei den Körperhaltungen und um Achtsamkeit. Schnelligkeit hilft mir da nicht weiter. Wer schnell ist, macht Fehler – und Fehler haben bei einer Kampfkunst fatale Folgen.

Möchte man den Kampf für sich entscheiden, muss man am Ende für einen kurzen Moment schnell werden. Doch ohne die Langsamkeit und Ausdauer vorher hätte man keine Chance.

Auch einmal schnell sein

Natürlich darf man auch mal schnell sein. Schnell sein kann Spaß machen. Auf einem Kettenkarussell kann man nicht langsam fliegen. Und manchmal brauche auch ich das schnelle Joggen (ok, bei mir ist es nicht ganz so schnell ☺) . Man möchte sich einfach mal austoben. Das ist alles richtig und wichtig. Erst dann, wenn die Schnelligkeit den ganzen Alltag einnimmt, auch noch die Freizeit oder sogar die Erholung (schnell zum Kurzurlaub düsen, schnell den Berg erklimmen, einmal flott entspannen …) – dann sollte man sich überlegen, ob man das wirklich so will – aus tiefstem Herzen will.

Aus tiefstem Herzen möchtest du vielleicht joggen oder Kettenkarussell fahren – dann ist alles gut.

Aber in dem Moment, wo du merkst, dass du von außen zur Schnelligkeit gedrängt wirst, ja, dass dein Gegenüber sich sogar einen Vorteil dadurch verschaffen will („Kauf das noch heute – nur heute ist es günstig“…), muss du ein lautes „Stopp“ sagen. Und überlegen, welches Tempo dein ganz individuelles, gesundes Tempo ist.


Langsamkeit macht stark

Kein Baum, der stark werden und lange leben will, wächst schnell. Die Zirben oder Arven (für die Schweizer) wachsen in den ersten 10 Jahren nicht einmal 10 cm. Dafür werden sie bis zu 1000 Jahre alt in einer Höhe, wo sonst fast nichts mehr überlebt (Meine Liebeserklärung an den Aletschwald). Ein wahrhaft resilientes Gewächs.

Die Birke, ein Pionierbaum, kann nach 10 Jahren bereits eine Höhe von über 7 Metern erreicht haben, wird maximal aber nur 150 Jahre alt. Sie hat eben ganz andere Aufgaben als die Zirbe in 2000 Meter Höhe.

Langsamkeit ein Prinzip der Natur

Natürlich sind auch die 150 Jahre einer Birke für uns eine unvorstellbar lange Lebenszeit. Gehen wir nach draußen in die Natur, werden wir erkennen, hier geht alles viel langsamer. Die Natur lässt sich Zeit, lässt sich nicht drängen.

Mein Lebensmotto:

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Abwarten ist die Devise, Zeit lassen, Geduld haben – dann entsteht Großartiges. Dann entsteht auch eine grüne Wiese – nicht jedoch, wenn ich das Wachstum damit beschleunigen will, indem ich alle Grashalme lang- und damit herausziehe.

Gehe ich in die Natur, kommt die Langsamkeit wie selbstverständlich zu mir. Vielleicht ist es die Kommunikation der Bäume untereinander, die ebenfalls nur langsam abläuft und in der ich mich mittendrin befinde. Vielleicht ist es der Anblick nun im Winter einer Knospe, die sich noch vor der Kälte schützt, nichts beschleunigen will und ihre Zeit abwartet. Vielleicht ist es auch eine Wunde am Baum, die der Baum in Jahrzehnten umwallt und heilt.

Ja, auch Heilung geht langsam, braucht seine Zeit, lässt sich nicht unter Druck setzen und nicht beschleunigen. Und selbst wenn eine Narbe bleibt, kann ich mich wieder heil fühlen. So, wie der Baum weiterhin existiert und jedes Jahr aufs Neue grünt.

Nur schnell – nein – schnell geht das eben nicht.


Fragen an dich

Was löst das Wort Langsamkeit bei dir aus?

Angenommen, du wärst über Nacht langsam(er) geworden – wie würdest du heute denken, fühlen, sprechen und handeln?

Gefällt dir die Vorstellung, langsam zu sein?

Was daran gefällt dir nicht?

Das, was dir gefällt, nimm mit in deinen Alltag 😊


Gehmeditation

Und für deinen nächsten Besuch in der Natur möchte ich dich einladen den Worten von Thich Nhat Hanh zur Gehmeditation zu folgen. Suche dir einen Weg aus, den du sehr langsam gehen möchtest. Halte kurz inne, nimm ein-zwei bewusste Atemzüge und dann setze dich in Bewegung – ein Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, mit den Worten von Thich Nhat Hanh im Ohr:  

"Für diese Meditation musst du kein bestimmtes Ziel vor Augen haben. Daher besteht kein Grund, dich zu beeilen. Das Gehen ist Selbstzweck. Es ist wichtig, dass jeder Schritt, den du tust, dich friedvoll und glücklich stimmt. Jeder Schritt bringt dich dabei ins Jetzt, in den einzigen Moment, in dem du tatsächlich lebst,.... Vermeide es, Sorgen und Ängste in deine Schritte zu geben, sondern gib ihnen Gelassenheit, Glück und Frieden mit... Lerne es, Schritte zu tun, in denen statt Spuren von Furcht oder Beklemmung, nur Frieden und Freude enthalten sind.“

Wenn du die Meditation beenden möchtest, bleibe wiederum stehen, schließe die Augen, spüre nach und mit einigen tiefen Atemzüge setzt du deinen Weg  in deinem dir angenehmen Tempo fort.

Mit der Gehmeditation wirst du immer mehr die Langsamkeit – und damit auch die Gelassenheit – in deinem Leben kultivieren.

Ich wünsche dir noch viele besinnliche Tage im Jahr 2022 und
dass du dir 2023  so viel entschleunigte Zeit schenkst, wie du dir aus tiefstem Herzen heraus wünschst.
Deine Annette

4 replies »

  1. Hallo Annette, wie schön von Dir zu hören und deine liebgewonnene Message zum Jahresende zu lesen. Grad zur Weihnachtszeit ist diese mentale Medizin! Ich versuche die Entschleunigung immer mehr zu leben, Langsamkeit ist das leider noch nicht 😉, bin aber dran. Ich wünsche Dir und Deiner Familie auch gesegnete Weihnachten und ein gutes 2023. Vielleicht sehen wir uns ja im Wald🤩. Herzliche Grüße Steffi Knies

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